Heimleitertagung Anno 2003 - In der Bütt

Das ist eine Anekdote aus 20 Jahren Krisenmanagement!

Die zweite Heimleitertagung meiner Laufbahn fand in einem großen Hotel irgendwo in Bayern statt. Ein Unternehmen mit damals 119 Einrichtungen. Das bedeutete, dass sich ca. 130 Menschen zu dieser Heimleitertagung trafen. Diese wurde in einem großen Saal mit einer Bühne abgehalten. Vor dieser Bühne standen 130 Stühle in Reih und Glied.

Auf der Bühne stand ein langer Tisch, an welchem sieben Personen Platz fanden - wie bei einer Karnevalssitzung.

Zwischen den Stühlen der Teilnehmer gab es aber keine Tische. Alle saßen da wie im Theater und schauten in Richtung Bühne. Als die „Sitzung“ begann, saßen die meisten der Heimleiter bereits auf ihren Plätzen.

Die erste Reihe war natürlich leer. Grund hierfür waren ganz klar Berührungsängste. 119 Menschen, vollgepackt mit Erwartungshaltung. Manche von ihnen kämpften schon seit Jahren gegen Windmühlen, um für ihre Einrichtung etwas zu erreichen. Einige waren neu und wollten Karriere machen. Andere wollten endlich Anerkennung für die erbrachten Leistungen. Viele hofften, dass sich etwas zum Besseren verändern würde.

50 von den 119 Heimleitern waren erst seit einer Woche ganz frisch in diesem Unternehmen und kannten den neuen Chef noch gar nicht. Sie hatten nur aus der Presse von ihm gehört und zwar nichts Gutes. Ich kannte ihn auch nicht, denn das war meine erste und einzige Heimleitertagung bei diesem Betreiber.

Als alle Heimleiter saßen, betrat er mit sechs seiner Mitarbeiter den Saal. Alle kletterten auf das Podium und setzten sich in einer Reihe an den langen Tisch. Der Betreiber in der Mitte. Drei von seinen Mitarbeitern saßen rechts von ihm, drei links. Sitzend, mit einem Mikrofon in der Hand, begrüßte er lässig alle Teilnehmer.

Er redete 30 Minuten darüber, wie gut es sei, dass jetzt 119 Einrichtungen zum Konzern gehören und wie hoch seine Gewinnerwartung sei. Außerdem sprach er davon, dass man die Kosten minimieren müsse. Ich fand die ganze Situation sehr spannend, weil die Atmosphäre bedrückend war und ich immer alles analysiere.

Zum Abschluss dieser Einführung kam er auf den Aspekt zu sprechen, dass einige Heimleiter ja noch Fragen haben könnten. Das war gar nicht so einfach, wenn man in Reih und Glied mit 119 anderen Menschen sitzt und auf so ein Podium schaut. Die hinten sitzenden werden vielleicht auch nicht von allen verstanden. Er löste dieses Problem, indem er das Mikrofon an den Heimleiter abgab, der vorne links saß. Mit der Bitte, das Problem, welches derjenige in seiner Einrichtung hatte, in das Mikrofon zu sprechen und dieses Mikrofon dann an seinen rechten Nachbarn weiterzugeben. Und dieser sollte es dann auch wieder an seinen rechten Nachbarn weitergeben, usw.

Ich konnte das gar nicht glauben. Da saßen 119 erwachsene Menschen in einer so merkwürdigen Situation und bekamen von ihrem linken Nachbarn ein Mikrofon gereicht und sollten dann in einem kurzen Satz erklären, was für Probleme sie in ihrer Altenpflegeheimeinrichtung hätten. Wenn jeder der Teilnehmer nur 4 Minuten ins Mikrofon spräche, dauert das 8 Stunden! Und abgesehen davon schrieb von den sieben oben auf dem Podium keiner mit.

Es waren tatsächlich Heimleiter dabei, die Sachen gesagt haben wie: „Mir fehlen 150 Wassergläser in der Einrichtung“, „uns fehlen Handtücher, wir trocknen unsere Bewohner mit Kopfkissenbezügen ab“ oder „wird Kaffee als Flüssigkeitszufuhr mit einberechnet oder nicht“? Hier trifft das Sprichwort zu: Niemand ist so bekloppt wie alle zusammen! Als ich an die Reihe kam, habe ich gesagt: „Keine Probleme, alles in Ordnung“. Dann habe ich das Mikrofon an meinen rechten Nachbarn weiter gegeben.

Ich hätte aber gern gefragt: „Wie geht es Ihnen nach ihrer Verhaftung? Mussten Sie lange in Untersuchungshaft sitzen oder bezahlen Sie die scheinbar von Ihnen hinterzogenen Steuern schnell zurück? Hilft Ihnen möglicherweise einer von ihren Politikerfreunden, die Katastrophe abzuwenden? Haben Sie nach diesem ganzen Desaster überhaupt noch Zeit, sich um 119 Altenpflegeheime zu kümmern? Oder nehmen ihre Machtspielchen all ihre Zeit in Anspruch?“

Wenn ich diesen Pflegekapitalisten mit dem an anderer Stelle von mir beschriebenen vergleiche, drängen sich Gemeinsamkeiten auf. Machtspiele in der Politik, Sponsoring von Sportereignissen sowie Wahrnehmungsstörungen in Bezug auf Finanzamtsangelegenheiten und sicher konnten beide jederzeit prima „shoppen“ gehen.

Wieso lassen 119 erwachsene Menschen sich so einseifen?

Das Mikrofon durch die Reihen der Heimleiter zu reichen hatte keine 8 Stunden gedauert weil viele Heimleitungen genau wie ich gesagt hatten, es gäbe nichts Besonderes in deren Einrichtung. Natürlich gab es 1000 Fragen, aber das war nichts, was man vor so viele Menschen in so einem Meeting besprechen konnte. Da brauchte es einen Gegenüber, der auch Entscheidungskompetenz hätte.

Da sitzt so ein feister Kerl vor einem und keiner sagt was. Ich kann das nur damit entschuldigen, dass Gruppen uns unter Umständen daran hindern, für eigene Ideen einzustehen. Wenn wir einer Gruppenmeinung widersprechen, wird nämlich der Teil unseres Gehirns aktiv, der für die Angst vor Zurückweisung zuständig ist: die Amygdala. Akzeptierter Teil einer Gruppe zu sein ist ein gutes Gefühl und wichtig für jeden von uns.

Man muss sich das noch einmal auf der Zunge zergehen lassen: Da sitzen Heimleitungen, die ihre Bewohner mit Kopfkissenbezügen abtrocknen lassen, weil sie keine Handtücher haben und der dort auf dem Podium hat 50 Heime dazu gekauft und erzählt was von Gewinnmaximierung.

Warum formieren sich da keine Sprechchöre?

Forscher haben beobachtet, dass Sprechchöre in einer Fangruppe beim Fußball, positive Gefühle hervorrufen. Allerdings stellten die Wissenschaftler, bei der singenden Testgruppe, auch eine deutlich erhöhte Aggressivität gegenüber dem Gegner fest.

Der Zusammenhalt in der Gruppe wird also durch synchrone Handlungen gestärkt und gleichzeitig steigt die Gewaltbereitschaft gegenüber anderen.

Im Laufe der nächsten Jahre habe ich noch viele Heimleitertagungen besucht. Oftmals habe ich mir vor meinem geistigen Auge vorgestellt, dass die Heimleiter aufstehen und gemeinsam singen.

So wie wir das im Ruhrpott, beim Fußball, machen: „Geh doch zu Hause du alte Sch... , geh doch zu Hause…“



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2 Kommentare

  • Hallo Frau Fretz,ähnlich ging es mir bei einer Tagung eines großen Konzern...Was ich aus dieser Tagung mitgenommen habe? Selbstbeweihräucherung der Obersten ,das war es dann auch schon...
  • Hey Rebecca,

    Ja leider haben noch nicht alle Führungskräfte verinnerlicht, das es ohne die Mitarbeiter nicht geht. Das gilt auch für Geschäftsführer. Ohne die Einrichtungsleitungen kann ein Konzern, auf lange Sicht, nicht bestehen.

Was denkst du?

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